K. Rieder: Netzwerke des Konservatismus

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Titel
Netzwerke des Konservatismus. Berner Burgergemeinde und Patriziat im 19. und 20. Jahrhundert


Autor(en)
Rieder, Katrin
Erschienen
Zürich 2008: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
736 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Hans Ulrich Jost, Section d'histoire, Universität von Lausanne

Mit der sich über 200 Jahre erstreckenden Geschichte der Berner Burgergemeinde erhalten wir Einblick in die Strategien und Lebensweisen der im Ancien Régime verwurzelten Konservativen der Stadt Bern. In der Helvetik waren bekanntlich neben den Einwohnergemeinden auch rund 2000 Burgergemeinden oder Korporationen mit dem Ziel geschaffen worden, den Burgern und ehemaligen Herrschaftsträgern ihren alten Gemeinbesitz zu sichern. So entstanden neben den Einwohnergemeinden mit Gütern, Nutzungsrechten und eigenem Rechtsanspruch versehene Körperschaften. Die Burgergemeinde der Berner ist die mit Abstand grösste und reichste der Schweiz. Sie besitzt rund 30 Prozent des Bodens von Bern und ihr Liegenschafts- und Grundbesitz wird auf über zwei Milliarden Franken geschätzt.

Katrin Rieder setzt sich in ihrer Dissertation mit der Frage auseinander, wie diese Körperschaft im 19. und 20. Jahrhundert nicht nur ihren Besitzstand, sondern auch ihren politischen und gesellschaftlichen Einfluss zu wahren vermochte. Wenn auch die politischen Auseinandersetzungen, bei denen der Bestand der Burgergemeinde in Frage gestellt wurde – z.B. der liberale Umschwung von 1831, der Ausscheidungsvertrag von 1852 oder der «Burgersturm» von 1887 –, zur Sprache kommen, so liegt das Schwergewicht der Untersuchung doch deutlich auf der sozialgeschichtlichen Ebene. Mit Anlehnung an Bourdieu versucht die Autorin zu zeigen, wie Bildung, Privilegien, kulturelle Werte, gesellschaftliche Konventionen und rituelle Anlässe, d.h. die Komponenten des symbolischen Kapitals, im Kampfe gegen die liberalen und demokratischen Kräfte eingesetzt wurden. Der Bau des Casinos, kurz vor dem Ersten Weltkrieg, oder die Schaffung und Leitung des Historischen Museums geben gute Beispiele ab, wie die Burger ihren Einfluss in der Berner Gesellschaft aufrecht erhielten. Dass sich bei diesen Bemühungen der Burger auch kulturelle Leistungen finden, die der Allgemeinheit zugute kamen, kommt in dieser Studie nicht immer deutlich zum Ausdruck.

In einem ersten, das 19. Jahrhundert umfassenden Teil werden die politischen, sozialen und kulturellen Aspekte des Lebens der Burgergemeinde in vielfältiger Weise erfasst. Mit einem ähnlichen Fragenkatalog geht es dann ins 20. Jahrhundert, wobei in diesem Teil das Kapitel 6, «Aristokratie und Frontenbewegung», beim Erscheinen des Buches viel Aufsehen erregte. Es zeigt die Verwicklungen von einigen Burgern mit dem schweizerischen Rechtsradikalismus der 30er Jahre. Ein Georg Thorman, 1968 zum Präsidenten der Burgergemeinde erkoren, wirkte in den 30er Jahren für kurze Zeit als Gauführer der Nationalen Front, während andere Bernburger sich im Umfeld der Erneuerungsbewegungen tummelten. Diese Hinwendung zu ultrakonservativen oder rechtsradikalen Kreisen ist an sich nicht aussergewöhnlich; allein die Tatsache, dass man in der Nachkriegszeit diesen Teil der Vergangenheit ausblendete, bewirkt heute die späte Aufregung.

Die breite und weit ausgreifende Untersuchung beruht auf sozialwissenschaftlich hergeleiteten und mit einem entsprechenden Jargon vorgetragenen Konzepten. Diese Prämissen werden immer wieder in die historische Analyse eingeschoben und führen, zusammen mit der sich wiederholenden Thematik, zu manchmal schwerfälligen Redundanzen. Es stellt sich die Frage, ob gewisse Themen – z.B. die Festkultur, die Ausbildung, die Familientradition etc. – nicht besser hätten zusammengeführt werden können. Es scheint mir auch, dass die politische Geschichte, in eine einheitlichere Form gebracht, besser verständlich wäre. Am schwersten erfassbar ist die wirtschaftliche Komponente, d.h. die Verwaltung der Einkommen und Güter oder deren Einsatz bei der Einflussnahme auf die Entwicklung der Stadt Bern. Zwar werden am Schlusse des Buches Beispiele der jüngsten Konflikte dieser mit Boden und Besitz geführten Politik berührt; sie vermögen aber eine Analyse der in den 200 Jahren getätigten Geschäfte nicht zu ersetzen.

Der erste Teil des Titels dieser Arbeit lautet «Netzwerke des Konservatismus». Damit wird eine weitgreifende Perspektive angedeutet, die zwar in diesem Buch nicht wirklich erfasst wird, die aber dennoch den Hintergrund der Geschichte der Berner Burgergemeinde bildet. Es geht um das Überleben und die Präsenz der aristokratischen oder adligen Gesellschaft im modernen Industrie- und Nationalstaat des 19. und 20. Jahrhunderts – ein wichtiger Aspekt, den Arno Meyer in seiner Studie «Adelsmacht und Bürgertum» ausgeleuchtet hat. Die Burgergemeinde gibt ein gutes Beispiel dieser Überführung der konservativen und aristokratischen Gesinnung in die moderne Gesellschaft, ein Prozess, der auch die Schweiz im Laufe des 19. Jahrhunderts erfasst hatte. Es ist ja wohl kein Zufall, dass die Vertreter der Industrie und der Finanzwelt im Nationalrat als «Bundesbarone» bezeichnet wurden, und dass die Offiziere der Armee um 1900 einen preussischen, vom Adel beeinflussten Stil imitierten. In diesen Kreisen kam ein Elitebewusst sein auf, das sich nicht selten mit jenem der alten aristokratischen Gesellschaft vermischte. Die Studie von Katrin Rieder geht diesen gesellschaftlichen Prozessen zwar nicht eingehend nach, sie liefert aber einen wertvollen Beitrag zur Sozialgeschichte der aristokratischen und bürgerlichen Gesellschaft Berns und, in indirekter Weise, jener der Schweiz.

Zitierweise:
Hans Ulrich Jost: Rezension zu: Katrin Rieder: Netzwerke des Konservatismus. Berner Burgergemeinde und Patriziat im 19. und 20. Jahrhundert. Zürich, Chronos Verlag, 2008. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 59 Nr. 2, 2009, S. 243-245.

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Beiträger
Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 59 Nr. 2, 2009, S. 243-245.

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